
Pionier und Visionär
Im Jahre 1885 gründete Albert Boehringer die Firma Boehringer Ingelheim. Alles hatte damit begonnen, dass der damals 24 Jahre alte Student der Chemie und Sohn des Mannheimer Chemiefabrikanten Christoph Heinrich Boehringer mit Hilfe seines älteren Bruders Ernst die kleine Weinsteinfabrik in Nieder-Ingelheim erwarb, die am 1. August 1885 als Firma „Albert Boehringer, Chemische Fabrik“ mit einer Belegschaft von 28 Mitarbeitenden ihre Geschäfte aufnahm. Nicht nur Geschick, Durchsetzungsfähigkeit und unternehmerische Weitsicht zeichneten den Firmengründer aus, auch für den wertschätzenden Umgang mit all seinen Mitarbeitenden genoss er ein hohes Ansehen. Ein Gastbeitrag von Dr. Michael Siebler.
Der Firmengründer war kein Wunderkind gewesen. In den ersten Jahren benötigte er vielmehr finanzielle Unterstützung und organisatorische Hilfe von Mutter Mathilde und seinem Bruder Ernst, der in Mannheim das väterliche Unternehmen C. F. Boehringer & Söhne (heute Roche Deutschland) führte, zusammen mit seinem Freund und Schwager Friedrich Engelhorn. Aber Albert Boehringer entwickelte Geschick und Durchsetzungsfähigkeit, Beharrlichkeit und unternehmerische Weitsicht. Diese Eigenschaften, gepaart mit einem festen Glauben an das Gelingen und Zuversicht in schier hoffnungslosen Lagen, bildeten die Grundlage für sein Lebenswerk: die Entwicklung der Firma C. H. Boehringer Sohn (CHBS) von einem glücklosen, wirtschaftlich defizitären Kleinbetrieb zu einem hochangesehenen und wirtschaftlich erfolgreichen Unternehmen der chemisch-pharmazeutischen Industrie.
Es wird oft vergessen, dass zunächst keineswegs die damals sogenannten Pharmazeutischen Spezialitäten das Kerngeschäft von CHBS ausmachten. Der Weg dorthin dauerte rund dreißig Jahre und war alles andere als gerade. Am Anfang standen die Produktion von Weinstein und Weinsäure vor allem für die Lebensmittelindustrie und der Wunsch, die lukrativere Zitronensäure herzustellen. Als nach dem unerwarteten Tod des Bruders Ernst im September 1892 in Nieder-Ingelheim der wichtigste Helfer und Ratgeber auf immer fehlte und 1893 ein Versuch zur Herstellung von Zitronensäure derart fehlschlug, dass statt dem gewünschten Produkt übelriechende Milchsäure in den Holzbottichen schwamm, stand CHBS vor dem wirtschaftlichen Ruin.
Die Not der Stunde zwang zu einer Entscheidung – und Albert Boehringer traf sie. Entgegen scheinbar jeder Vernunft stellte er die Versuche ein und begann stattdessen mit der Ausarbeitung eines Verfahrens für die Produktion von Milchsäure in großem Maßstab, für ein Produkt also, für das noch kein regelrechter Markt existierte. Einen solchen gleichsam zu (er)finden und nach 1895 mit immer besserer Qualität zu bedienen, das war das unternehmerische Meisterstück von Albert Boehringer.
Erst mit den Gewinnen aus der Milchsäureproduktion konnte Albert Boehringer endlich an eine rentable Herstellung von Alkaloiden denken, konnte er für diese ureigene Domäne der Familie Boehringer seit Großvater Christian Friedrichs Zeiten die nötige Infrastruktur schaffen. Im Jahre 1905 war es dann soweit: CHBS in Nieder-Ingelheim begann mit der Produktion von Alkaloiden. Neben Kokain, Morphin und Codein wurden in den folgenden Jahren weitere Alkaloide in die Angebotspalette aufgenommen.
Von der Alkaloid-Produktion war es dann kein weiter Weg mehr hin zur Herstellung von Pharmazeutischen Spezialitäten oder verschreibungspflichtigen Präparaten, dem heutigen Kerngeschäft von Boehringer Ingelheim. Bereits 1912 gab es das Schmerzmittel Laudanon®, das aus sechs Alkaloiden des Opiums zusammengesetzt war; eine erfolgreiche Markteinführung 1915 scheiterte aber schließlich an kriegsbedingter Rohstoffverknappung und einem Konkurrenzprodukt des Schweizer Unternehmens Hoffmann-La Roche. Erste wirtschaftliche Erfolge mit Humanpharmazeutika markierten das 1921 eingeführte klassische Notfall-Atemanaleptikum Lobelin® und neun Jahre später das Kreislaufmittel Sympatol®. Die Umsätze der Pharmazeutischen Spezialitäten aus dem Hause Boehringer Ingelheim waren zwar noch gering gegenüber den beiden Umsatz-Säulen Säuren und Alkaloide, aber mit dem Eintritt in diesen vielversprechenden Markt hatte Albert Boehringer die dritte Ertrags-Säule für sein Unternehmen errichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte sie sich zum eigentlichen Umsatzträger von Boehringer Ingelheim entwickeln.
Boehringer Ingelheim verdankt seinem Firmengründer aber nicht nur die Etablierung der Geschäftsfelder, die entscheidend für den Aufstieg und den Erfolg des Unternehmens werden sollten, sondern auch die Grundlagen seiner Kultur und der Wettbewerbsfähigkeit im Markt. Albert Boehringer, dem 1911 der Titel eines Kommerzienrats und zehn Jahre später die Ehrendoktorwürde der Universität Freiburg verliehen worden waren, vergaß nie, wem er nicht zuletzt den wirtschaftlichen Erfolg zu verdanken hatte, und dass er Bestand und Zukunftsfähigkeit seiner Firma sichern musste, um sie in ungeteiltem Familienbesitz halten zu können. Vieles kommt heute bekannt vor, hat sich im Grundsatz seither auch nicht geändert.
Die Wertschätzung der eigenen Mitarbeitenden war für den gestreng-gerechten Firmengründer kein Lippenbekenntnis. Vielmehr dokumentierte er diese im täglichen Umgang und in seiner Fürsorge; zahlreiche Anekdoten künden ebenso davon wie die Etablierung sozialer Einrichtungen wie die Betriebskrankenkasse, bezahlter Urlaub, eine betriebliche Altersversorgung, die tägliche Mitarbeiterspeisung, Unterstützung für in Not geratene Mitarbeitende oder die Errichtung von Wohnungen und Häusern für die Arbeiter und Angestellten.
Mit der Gründung der Wissenschaftlichen Abteilung 1917 stellte Albert Boehringer schließlich die Forschung im eigenen Hause auf feste Beine. Zum ersten Leiter wurde der Vetter seiner Frau Helene, der Chemiker Heinrich Wieland (Nobelpreisträger von 1927), ernannt. Zur Sicherung und Stärkung von Innovation bei CHBS hielt er natürlich engen Kontakt mit Wissenschaftlern, die über das notwendige Wissen verfügten und über Ideen zur richtigen und rechtzeitigen Nutzung von neuen Entwicklungen. Ergänzend versicherte er sich, wann immer möglich, der Arbeitskraft und Innovationsfreude von ausgezeichneten neuen Mitarbeitern und Ratgebern; viele dankten ihm solches Vertrauen mit jahrzehntelanger Treue. Ratgeber konnten auch aus dem weiteren Familienkreis stammen, wie etwa der schon genannte Heinrich Wieland oder Neffe Robert Boehringer, der dem Unternehmen und der Inhaberfamilie über drei Generationen mit Rat und Tat verbunden blieb.
Hohe Bedeutung maß Albert Boehringer der Selbstständigkeit seines Unternehmens und dem Erhalt von CHBS in der eigenen Familie bei. Der Verlust des väterlichen Unternehmens für die Familie Boehringer nach dem Tod seines Bruders 1892 war ihm stets eine Mahnung zur rechtzeitigen Vorsorge geblieben. Aber er musste um den Erhalt und die Zukunft von CHBS ringen, die manches Mal sehr ungewiss erschien. Da war die bedrohliche Schieflage nach dem Tode des Bruders 1892 gewesen, die Mangelwirtschaft im Ersten Weltkrieg, die Besetzung des Rheinlandes durch französische Truppen 1918, die durch den Vertrag von Versailles festgesetzten Reparationszahlungen, die Hyperinflation 1923, seine Ausweisung aus Nieder-Ingelheim durch die französischen Besatzungsbehörden im gleichen Jahr, die bald folgende Weltwirtschaftskrise mit dem Börsenkrach in New York 1929, dem Zusammenbruch der Banken 1931 und der darauf folgenden Massenarbeitslosigkeit – all das ging natürlich nicht an CHBS vorbei, ohne tiefe Spuren zu hinterlassen.
Der ausgeprägte Familiensinn spiegelte sich vor allem in der relativ frühen Übertragung von Verantwortung an seine beiden Söhne Albert (1919; Alkaloide) und Ernst (1927; Pharmazeutische Spezialitäten) sowie an seinen Schwiegersohn Julius Liebrecht (1920; Säuren). Damit gewann „Leitung“, wie Albert Boehringer oft genannt wurde, Unterstützung im Tagesgeschäft und Sicherheit für eine von der eigenen Familie getragenen Nachfolge. Die Verantwortung für die Geschicke von CHBS lag schon seit den frühen 1930er Jahren in den Händen der zweiten Generation. Albert, Ernst und Schwager Julius führten sie im Sinne des Firmengründers weiter. Das Leitmotiv ihres Handelns könnte man vielleicht umreißen mit den Worten: Bewahrung von Tradition und Werten bei gleichzeitiger Offenheit für Fortschritt und Innovation – eine Richtschnur für verantwortungsbewusstes unternehmerisches Handeln, das die Gesellschafterfamilie über alle Generationen hinweg geprägt hat.
Als Albert Boehringer am 11. März 1939 starb, trauerte die gesamte Belegschaft. Aber nicht das Unternehmen allein, ganz Ingelheim und Umgebung nahm innigen Anteil, denn er, der geborene Schwabe, war schon längst für die Ingelheimer einer der Ihrigen geworden. Sein Name und Ruf war mit dem Ingelheims aufs engste verknüpft. Die Beisetzung am 13. März geriet deshalb selbstredend zu einer großen Geste der Verbundenheit mit dem Verstorbenen und seiner Familie, als Mitarbeitende, Pensionäre, Freunde, Geschäftspartner und Einwohner Nieder-Ingelheims und der benachbarten Gemeinden die Straßen säumten, um Albert Boehringer ein letztes Mal Respekt und Dankbarkeit zu zollen. Der vierspännige Leichenwagen trug seinen Sarg zum Abschied durch das gesamte Werk zum Friedhof.
1 Kommentar(e) für 'Pionier und Visionär'
Kommentare
....eine unglaublich tolle
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