
Eine treibende Kraft
Ernst Boehringer war ein Unternehmer im besten Sinne des Wortes: innovativ-drängend, begeisternd und mitreißend. Wirtschaftliche Unabhängigkeit verstand er als unentbehrliche Grundlage jeglichen innovativen Strebens. Und die hohe Wertschätzung der Mitarbeitenden war für ihn keine Worthülse. Ein Gastbeitrag von Dr. Michael Siebler.
Sein Vater gab ihm nur einen einzigen Namen: Ernst. Die beiden älteren Geschwister hießen Albert Karl Christoph (1891–1960) und Ilse Sophie (1894–1978). Mehrere Vornamen waren also durchaus die Regel in der Familie. Im Fall von Sohn Ernst aber wich Firmengründer Albert Boehringer (1861–1939) bewusst davon ab. Er nannte seinen Jüngsten schlicht nach seinem Bruder Ernst (1860–1892), der im September 1892 plötzlich verstorben war. Mit ihm hatte Albert Boehringer seinen großen Helfer in der Not und Tutor beim Aufbau seiner Firma in Ingelheim verloren; und Ernst sollte nicht vergessen werden.
Ernst Boehringer – oder Dr. Ernst Boehringer, wie der studierte Chemiker nach seiner Promotion 1927 stets und respektvoll genannt wurde – vereinte wie kaum einer in der Familie humanistische Werte, Pflichtbewusstsein gegenüber Mitmenschen und Gesellschaft, Beharrlichkeit und Zuversicht, Aufgewecktheit und Kreativität, unternehmerischen Weitblick und kulturgeschichtliches Interesse in einer Person. Diese Eigenschaften prädestinierten ihn zum primus inter pares, zum Ersten unter Gleichen, im Unternehmen. Nach seinem Eintritt in die Unternehmensführung 1927 avancierte er innerhalb weniger Jahre zur eigentlichen treibenden Kraft für die Entwicklung von Boehringer Ingelheim zu einem weltweit erfolgreich agierenden forschenden Pharmaunternehmen – gerade auch in wirtschaftlich und politisch schwierigen Jahren wie nach dem Zweiten Weltkrieg.
Der ältere Bruder Albert und Schwager Julius Liebrecht (1891–1974) erkannten recht schnell Ernsts Führungsqualitäten an und unterstützten ihn, wann immer das nötig war; umgekehrt wiederum agierte Ernst sicherlich mit dem notwendigen Maß an Fingerspitzengefühl, um beider Zustimmung für sein Tun und Handeln zu gewinnen. So arbeiteten die drei gemeinsam und mit großem Einsatz erfolgreich für den wirtschaftlichen Erfolg des Familienunternehmens.
Albert und Julius waren in ihren eigenen Verantwortungsbereichen (Albert für Alkaloide, Julius für organische Säuren) ebenfalls erfolgreich, ja so erfolgreich, dass sie – so eine Überlieferung – Ernst sogar hätten wissen lassen, er könne doch nur deshalb so offensiv in die Pharmazeutischen Spezialitäten investieren, weil sie mit ihren Geschäftsbereichen die dafür notwendigen Gewinne erwirtschafteten. Das Ergebnis dieser „Arbeitsteilung“ kennen wir: Heute sind die verschreibungspflichtigen Präparate Kerngeschäft von Boehringer Ingelheim. Wie die Vorzeichen sich umkehrten, zeigt ein Brief Ernst Boehringers vom 10. Juni 1958, in dem er verärgert konstatierte: „Das Resultat ist letzten Ende dieses, daß unsere Pharm-Spez-Abteilung in ihrer Dynamik in unzulässiger Weise durch den Aufbau und die Erhaltung anderer nicht Ertrag bringender Abteilungen geschwächt wurde …“
Ohne die Verdienste von Bruder Albert und Schwager Julius Liebrecht im geringsten schmälern zu wollen, darf doch vermerkt werden, dass der persönliche Einsatz von Ernst Boehringer für Firma und Familie ein wirklich außerordentlicher und unermüdlicher war. Die Firma war sein Leben und dieses stellte er ganz und gar in deren Dienst. Der Preis für diese Lebenshaltung erscheint heute hoch: Eine fortschreitende Herzschwäche zwang ihn im letzten Lebensjahrzehnt immer wieder gegen seinen Willen, kürzer zu treten. Gleichwohl darf man fragen, ob Ernst Boehringer dies heute auch so sehen würde oder ob es für ihn vielleicht doch eher eine ausgeglichene Lebensbilanz vor dem Hintergrund all dessen war, was er vollbracht und erreicht, welchen Freundeskreis er gewonnen und auf welch hohem Niveau er geistigen Austausch hatte pflegen dürfen.
Bei der Lektüre seiner Korrespondenz während solcher Zwangspausen – oft war er im Schwarzwald zur Erholung – kann man durchaus den Eindruck gewinnen, dass diese „Ruhepausen“ ihm verstärkt einen Blick „über den Tag hinaus“ ermöglichten und seinen Sinn für reflexiv-philosophische Gedanken schärften. Das konnten dringende Lektürehinweise und wohlgemeint-fordernde Ratschläge für die jüngeren Familienmitglieder sein, aber auch reflektierende Ausführungen über finanztechnische Planung, Investitionsvorschau und Sorge um den personellen Nachwuchs oder „ein Leitgedanke und eine klare Zielsetzung, eine business-philosophy, wie die Amerikaner sagen“.
Ob seine Frau, die eigenen Söhne oder Neffen und Nichten, ob Verwandte, Freunde, Mitarbeitende oder Geschäftsfreunde und andere mehr, alle durften oder mussten mit Briefen und Notizen rechnen. Deren Inhalte reichten von der Beschreibung einer Reise durch den französischen Süden, über Ermahnungen für das Studium, die Planung der Ausbildung und Förderung von Familienmitgliedern und Erfolg versprechenden Mitarbeitenden, Überlegungen zu unternehmerischen Fragen, die er als Diskussionsgrundlage oder Entscheidung an die Firmenleitung adressierte, bis hin zu Zusagen für finanzielle Unterstützungen. Von dieser im Stillen geübten Freigiebigkeit oder mittels der 1956 ins Leben gerufenen „Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften“ profitierten viele: Museen und Bibliotheken ebenso wie das Chemische Institut der Universität in München, Kunsthistoriker oder Altertumswissenschaftler ebenso wie Bürger und Institutionen der kleinen französischen Stadt Espalion; diese hatte ihm 1957 als erstem Deutschen nach dem Krieg die Ehrenbürgerwürde verliehen, sechs Jahre vor dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag.
Kunstgeschichte, Archäologie, Literatur – das waren seine großen Vorlieben, deren Grundlagen er nicht zuletzt dem anderen Titanen aus der Familie Boehringer verdankte, Robert Boehringer (1884–1974). Der Vetter und lebenslange Freund und Ratgeber in vielen Lebenslagen war der Ingelheimer Familie seit 1913 bis zu seinem Tod eng verbunden. Selbst ein Dichter und Altertumswissenschaftler von Graden, unterstützte Robert schon früh das Interesse des jüngeren Ernst für die griechisch-römische Kultur, die Kunst und die Literatur. Die Ikonen aus der schwäbischen Heimat – Hölderlin und Schiller zählten zu seinem Kanon, besonders jedoch Goethe – aber auch die Weltliteratur hatte ihren festen Platz. Was ihm seine großzügige, lichtdurchflutete Bibliothek in der Grundstraße bedeutete, von der aus er sowohl das Werksgelände als auch den Rheingau sehen konnte, blitzt ab und zu in Briefen oder Erinnerungen auf. Dort muss er oft gesessen haben, alleine oder in Gesellschaft, lesend oder schreibend, diskutierend oder lachend, Kunstwerke betrachtend oder in Gedanken versunken.
Die Feststellung ist sicher nicht falsch, dass diese passionierte Beschäftigung mit Kunst, Literatur und Kultur, mit Biografien und Werken vorbildlicher Denker und Politiker verschiedener Epochen und Kulturkreise seine humanistisch geprägte Lebensführung stark beeinflussten – und damit auch seine Auffassung von den Aufgaben eines Unternehmers.
Und er war ein Unternehmer im besten Sinne des Wortes: innovativ-drängend, begeisternd und mitreißend, im Erschließen neuer Geschäftsfelder ebenso wie in der Erforschung neuer Wirkstoffe und deren erfolgreicher Einführung. Über allem Tun stand das Bemühen um die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Familienunternehmens, denn Unabhängigkeit verstand er als unentbehrliche Grundlage jeglichen innovativen Strebens.
Die hohe Wertschätzung der Mitarbeitenden war für ihn keine Worthülse. Was er darunter verstand, ist vielleicht am dichtesten in der überlieferten Sentenz destilliert:
„Der menschliche Intellekt hat nicht den Vorrang, er muss ergänzt werden durch das Herz. Das Gehirn allein bringt keine menschliche Nähe. Der Vorgesetzte muss auch menschliche Wärme ausstrahlen und die Menschen für sich zu gewinnen verstehen.“
Diese Worte sind auf den ersten Blick eine schlichte Feststellung, Aufforderung und Ausdruck einer Überzeugung. Mit guten Gründen könnte man darin aber auch das Kürzel einer Unternehmenskultur erkennen, für die Ernst Boehringer stand: Brillante intellektuelle und wissenschaftliche Spitzenleistungen werden eben nur dann den Erfolg des Unternehmens nachhaltig heben, wenn dessen Führungsgrundsätze zuvörderst auf natürlicher Autorität und lauterer Menschlichkeit gründen, gegenüber jedermann und über alle Hierarchiestufen hinweg bis hin zum Lehrling – geistigem Hochmut und Selbstsucht also eine Absage erteilen. Dieser so einfach klingenden wie schwierigen „Forderung des Tages“ hat Ernst Boehringer sicher nachzueifern versucht – bis sich am Morgen des 11. Januar 1965 sein Lebenskreis schloss.
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